Auswanderungen aus der Grafschaft Büdingen

Siehe dazu die Sonderausstellung "Aufbruch zu fremden Ufern - Auswanderung aus dem Büdinger Land"

Büdingen spielte als Ort der russischen Werbungen, Sammelplatz der Transporte und Schauplatz von 375 Kolonisten-Trauungen eine besondere Rolle.
Am 22. Juli 1763 erließ Zarin Katharina die Große ein Manifest, das Siedler ins russische Reich einlud. Jeder Kolonist sollte ein ausreichendes Stück Land mit guten Böden erhalten, dazu Pferde, Wagen, Geschirr und Saatgut. Zudem wurden Steuerfreiheit bis zu 30 Jahren, Religions- und Kultfreiheit, Freiheit von Diensten und Kontributionen und die Freistellung vom Militärdienst, „auf ewig“, wie es hieß, eingeräumt.
Zu den wenigen Territorialherrn im Reich, die russische Werbungen und die Einrichtung einer Sammelstelle erlaubten, gehörte der Büdinger Graf Gustav Friedrich zu Ysenburg. Vor allem Bewohner aus dem Vogelsberg, der fuldischen Rhön oder dem Odenwald, aus Dörfern am Büdinger Wald und auf der „Spielberger Platte“ ließen sich registrieren. Die Kolonisten kamen aber auch aus entfernten Gebieten wie Thüringen, Sachsen, Flandern, Holland, dem Elsaß und der Schweiz nach Büdingen.
Einen Eindruck von den Ausmaßen und Herkunftsorten vermittelt das „Kopulationsbuch“ der Stadtkirche. Hier sind die 375 Hochzeiten registriert, die zwischen dem 24. Februar und dem 8. Juli 1766 stattfanden, schubweise mit bis zu 13 Trauungen an einem Tag. Für das Siedlungsprogramm waren vor allem Familien oder junge Paare erwünscht.
Die Transporte führten über Land und die Flüsse hinab zum Hafen Lübeck, über die Ostsee zum Zielhafen Kronstadt. Weiter ging es nach Oranienbaum bei St. Petersburg in die Winterquartiere.
Im Frühsommer 1767 erreichten die Siedler ihre Ziele an der Wolga. Dort wurden Ländereien zugewiesen und Dörfer angelegt. Viele Auswanderer aus „Isenburg“ finden wir in den Siedlungen Balzer und Kraft.
Zwischen 1764 und 1771 wurden in den 104 Kolonien an der mittleren Wolga 23.216 Bewohner angesiedelt. Ein Großteil kam aus Gebieten im heutigen Hessen. 3293 Menschen waren auf der beschwerlichen Reise in die ersehnte neue Heimat gestorben.
Nach der rigorosen Beschränkung der einst gewährten Rechte im 19. Jahrhundert verließen Tausende ihre Siedlungen und wanderten in die Vereinigten Staaten und nach Kanada, teilweise bis nach Argentinien, Uruguay und Paraguay.

Die Neue Welt als Ziel im 19. Jahrhundert
Die erste große Emigrationswelle ging ab 1824 nach Brasilien. Die bisherige Bewirtschaftung der Plantagen mit Sklaven aus Afrika sollte durch eine großräumige Neusiedlung abgelöst werden, für die Einwanderer gebraucht wurden.
Der Grund für diese Auswanderungswelle war eine schlimme Hungersnot im Winter 1816/1817 nach den langen Kriegszeiten der Napoleonischen Epoche.
Halbe Ortschaften im Vogelsberg entschlossen sich zur Abwanderung. Das Büdinger Landgericht publizierte 1825 eine Liste von 291 Haushaltsvorständen, die zur Auswanderung nach Brasilien bereit seien, man kann somit von mehr als 1000 Familienangehörigen ausgehen.

Wernings 1842
Während des Dreißigjährigen Krieges war Wernings verlassen worden und wurde erst seit 1686 von Wenings aus wieder durch die Familie Gottfried Ströder neu besiedelt. 1830 wohnten in 25 Häusern 147 Personen. Dreizehn Haushalte waren bäuerliche Betriebe, es gab 7 Handwerker und 5 Tagelöhner.
1824 waren 2 Familien nach Brasilien ausgewandert. Die Gemeinde und die meisten der Ortsbürger waren verschuldet. Zu den Steuerlasten kamen noch die als ungerecht empfundenen Leistungen an den Birsteiner Fürsten, wie Frongelder, Schnitthämmelabgabe oder das herrschaftliche Wirtschafts- und Brennereimonopol.
1840 baten alle Bewohner um Abzugserlaubnis. 1841 wurde das gemeindliche und gesamte private Grundvermögen schließlich für 110.000 Gulden veräußert.
1842 wanderten 118 Erwachsene, darunter ein Greis von 89 Jahren, und 38 Kinder und Säuglinge, der jüngste nicht einmal zwei Monate alt, nach Amerika

aus. Über New Orleans reisten sie den Mississippi hinauf nach Illinois und ließen sich am Fluss Columbia nieder. Die heutige Verschwisterung Gederns mit der Kleinstadt Columbia/Illinois geht auf dieses Geschehen zurück.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Pferdsbach 1847
Pferdsbach besaß 186 Einwohner in 46 Haushalten. Die Gemarkung war mit rund 1000 Morgen zwar relativ groß, doch gehörte die Hälfte davon zum Fürstlich Ysenburgischen Christinenhof. Dort arbeitete auch ein Teil der Pferdsbacher im Tagelohn, andere als Waldarbeiter.
Der Großteil der Einwohner wollte auswandern, 19 Haushalte mit 67 Personen fanden sich zur Verlegung ihrer Wohnsitze bereit. 1846 wurde das aufgegebene Pferdsbach für 95.000 Gulden an Ernst Casimir I. verkauft, um die Überfahrt und den Landerwerb in der Neuen Welt zu finanzieren.
Die Auswanderer reisten 1847 über Hanau, Mainz, Antwerpen, New York nach Pittsburgh/Pennsylvanien.
Das letzte kleine Haus der Familie Jeck wurde 1906 niedergelegt, nur eine Scheune blieb bis vor wenigen Jahren erhalten. Heute erinnern an den Ort Pferdsbach nur noch eine Gedenktafel und der Platz des Friedhofs, dessen Gräber abgeräumt sind.

Michelau 1847
Im Hungerjahr 1846 gingen aus zahlreichen Orten Gesuche zum Abzug größerer Gruppen bei den Behörden ein, so zum Beispiel aus Leisenwald oder Kefenrod. Michelau sollte aufgelöst, der Gemeindebesitz verkauft und nach Köpfen verteilt werden.
Nach dem Stand von 1844 umfasste die Gemeinde Michelau 243 Einwohner in 56 Familien. Die Mehrzahl waren Bauern, 12 Tagelöhner, 11 Dienstboten, 5 Handwerksgesellen/Lehrjungen. Es gab zwar 73 Kühe und 28 Rinder der Vogelsberger Rasse, aber nur ein einziges Pferd. Hinzu kommen 80 Schweine, 54 Schafe und 11 Ziegen, nicht viel, wenn man sie auf die Haushalte umlegt.
Unter Einschluss des Waldbesitzes umfasste die Gemarkung 752 Normalmorgen, bestand aber aus 2974 Parzellen, woraus die enorme Zersplitterung sichtbar wird. Die größten Eigentümer besaßen 37 und 34 Morgen Land, zwanzig Haushalte nur einen bis drei Morgen.
Um das Dorf herum gab es viel Obstwachstum, gezählt wurden 1182 Bäume, davon 299 Apfel-, 297 Birnen- und 670 Zwetschgenbäume. Wein gedieh hier nicht, auch Gartengewächse wurden nur „nach Nothdurft“ gezogen. Da die Erlöse aus der Landwirtschaft nicht ausreichten, lebten die meisten Einwohner vom Tagelohn, wobei männliche Tagelöhner 20 Kreuzer, Frauen 18 Kreuzer verdienten.
Die Äcker und Wiesen umfassten 460 (Lokal-)Morgen, die mit 57.892 Gulden bewertet wurden. Der Wert des Gemeindewaldes von 337 Morgen wurde auf 85.710 Gulden taxiert. Für die 41 Wohnhäuser mit Nebenund Wirtschaftsgebäuden wurden 29.220 Gulden angesetzt. Es ergab sich eine Gesamtsumme von 172.822 Gulden, es fand sich aber kein Käufer. Man blieb dann doch.

Hurdy-Gurdy-Girls
Eine beklemmende Seite der Auswanderung zeigt sich bei den „Hurdy-Gurdy-Girls“, Drehleier-Mädchen, die oft aus Dörfern der nördlichen Wetterau um Butzbach, etwa Ostheim oder Nieder-Weisel, kamen. Sie wurden in größerer Zahl als Musikantinnen und Tänzerinnen nach Kalifornien gelockt, mit Methoden, die fatal an aktuellen „Mädchenhandel“ zum Zwecke der Prostitution erinnern.
Dieses Phänomen hängt aber auch mit der älteren Wetterauer Landgängerei zusammen, vor allem dem Handel mit Fliegenwedeln, die in den Taunusdörfern um Espa hergestellt und durch Wanderhändler und ihre Begleiterinnen bis nach England vertrieben wurden. Das Musikinstrumenten-Museum in Lißberg widmet den hessischen Drehleier-Mädchen eine interessante, nachdenklich machende Dokumentation.

 

 

Literatur zur Auswanderung

Büdinger Geschichtsblätter Band 3/4, 1959/61
Lothar Döring
100 Jahre Deutsche aus dem Büdinger Land in Amana/USA, S. 49-50

Büdinger Geschichtsblätter Band 14, 1991/92
Rudolf Höhn
Elf Bleichenbacher Familien wandern 1722 nach Ungarn aus, S. 361-367

Büdinger Geschichtsblätter Band 15, 1995/96
Eckhart G. Franz
Deutschland braucht Kolonien … in Texas? Frühe Kolonialpropaganda aus Büdingen, S. 335-339

Büdinger Geschichtsblätter Band 16, 1998/99
Willi Luh
Zinzendorfs "Öffentliche Reden" in America 1741 bis 1743. Der Autor Zinzendorf und sein Büdinger Verleger Stöhr, S. 330-354

Büdinger Geschichtsblätter Band 26, 2020
Maria Patzer
Die fremde Heimat, S. 351-360

 

Aufbruch zu fremden Ufern
Büdinger Geschichtsverein 2012

Klaus-Peter Decker
Auswanderungsbewegungen aus dem Büdinger Land im 18. und 19. Jahrhundert

Hans Erich Kehm
Wernings und seine wechselvolle Geschichte

Rodrigo Trespach
Auswanderer aus dem heutigen Wetteraukreis nach Südbrasilien 1824-1830

Büdinger Stadtarchiv
Verzeichnis der Büdinger Auswanderer

 

Büdingen als Sammelplatz der Auswanderung an die Wolga 1766
Klaus-Peter Decker
Geschichtswerkstatt Büdingen 2009

Die Auswanderung von 1766/67 aus der Grafschaft Ysenburg-Büdingen nach Russland
Soziale und wirtschaftliche Hintergründe anhand ausgewählter Dokumente
Mit einer Namensliste der Emigranten
Klaus-Peter Decker
Geschichtswerkstatt Büdingen 2015

Johann Jährig und seine Zeit
Ein Büdinger forscht bei den Mongolen
Karlheinz Schweitzer
Geschichtswerkstatt Büdingen 2008

Verbannt und ohne Heimat erw. Aufl.
Maria Reichert
Geschichtswerkstatt Büdingen 2012

Schicksalswege der deutschen Auswanderer nach Russland
Elsa Neufeld
Geschichtswerkstatt Büdingen 2017

Schiffspassage ohne Rückfahrticket
Geschichte der Auswanderer aus Gelnhaar
Renate Zyszk
Geschichtswerkstatt Büdingen 2011